Veranstaltung: | 56. Landesversammlung |
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Tagesordnungspunkt: | 10. Weitere Anträge (V-Anträge) |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesversammlung |
Beschlossen am: | 25.03.2023 |
Eingereicht: | 03.03.2023, 12:53 |
Impulse für eine evidenzbasierte Kriminal- und Strafrechtspolitik
Beschlusstext
- Einleitung
- Unsere Ziele
- a) Freiheitsstrafe reduzieren
- aa) Strafrecht entrümpeln
- bb) Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen
- cc) Alternative Sanktionen im Strafgesetzbuch und
Jugendgerichtsgesetz verankern und stärken- (1) Restorative Justice / Täter-Opfer-Ausgleich
- (2) elektronische Aufenthaltsüberwachung als milderes Mittel
zur Freiheitsstrafe - (3)Verstärkte Anwendung von § 35 Betäubungsmittelgesetz
- (4) Jugendhilfe ausbauen
- b) Strafvollzug menschlich und modern
- aa) Rentenversicherung und Entlohnung
- bb) Besondere Bedarfe, besondere Angebote
- (1) Frauen im Vollzug
- (2) sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Vollzug
- (3) Suchtmittelabhängigkeit
- (4) Menschen mit psychischen Störungen
- (5) ausländische Inhaftierte und Inhaftierte mit
internationaler Geschichte
- cc) Besondere Vollzugsformen
- dd) Resozialisierung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
- Ausblick
1. Einleitung
Die Auseinandersetzung mit Kriminalität und der staatlichen Reaktion darauf ist
eine zentrale Aufgabe von Gesellschaft und Politik in einem freiheitlichen,
demokratischen Rechtsstaat. Für uns Bündnisgrüne ist klar: Die Grundlage von
Kriminal- und Strafrechtspolitik muss wissenschaftliche Evidenz sein. Dabei geht
es sowohl um gesellschaftliche und individuelle Ursachen von Kriminalität, als
auch um die Wirkung staatlicher Reaktions- und Sanktionsmechanismen auf die
individuell Betroffenen und auf unsere Gesellschaft.
Politische Diskussionen und Berichterstattung zum Thema Kriminalität sind jedoch
häufig stark geprägt von Populismus, einer Unkenntnis über kriminologische
Zusammenhänge und einem archaischen Bild von Strafe. Obwohl die Anzahl der
registrierten Straftaten seit Jahren rückläufig ist, ist die Kriminalitätsfurcht
in unserer Gesellschaft unvermindert hoch. Diese hat jedoch negativen
Auswirkungen auf unser Zusammenleben und unsere Demokratie. Denn zwischen einer
erhöhten Kriminalitätsfurcht und einer erhöhten Anfälligkeit für
Verschwörungsideologien und Autoritarismus besteht ein unmittelbarer
Zusammenhang. Es ist jedoch die Aufgabe von bündnisgrüner Kriminal- und
Strafrechtspolitik - auch im Angesicht von gefühlten und realen Bedrohungslagen
- politische Entscheidungen auf der Grundlage empirisch belegbarer Informationen
zu treffen. Wir wollen sowohl Menschen und andere Rechtsgüter schützen als auch
ein Verständnis für maßvolle und differenzierte Reaktionen vermitteln. Nur so
lässt sich unser Ziel eines friedlichen Zusammenlebens und einer möglichst
weitgehenden Vermeidung von Straftaten nachhaltig erreichen. Die Inhaftierung
bleibt für uns Ultima Ratio. Stattdessen wollen wir Alternativen zu Strafe und
Strafvollzug stärken.
Die aktuell im Gesetz vorgesehenen Formen der Strafe (Freiheits- und Geldstrafe,
Fahrverbot) lassen für die Fragen nach den Ursachen von Straffälligkeit und nach
dem Weg hin zu einer erfolgreichen Resozialisierung, als primärem Ziel des
Vollzuges, nicht genug Raum. Eine evidenzbasierte Kriminalpolitik befördert den
Erhalt demokratischer Werte und den Schutz des sozialen Friedens. Wir
Bündnisgrüne wollen deshalb nicht nur über evidenzbasierte Kriminalpolitik
reden, wir wollen sie umsetzen. Zu lange schon verstaubt das Thema in
akademischen Debatten, dabei wird die Reformierung des Strafvollzuges in der
Bundesrepublik Deutschland bereits seit den 60er Jahren breit diskutiert. Getan
hat sich bisher deutschlandweit zu wenig. Die noch in den 1980er-Jahren auch und
gerade in unserer Partei breit geführten gesellschaftlichen Debatten über die
Entwicklung von Strafe und Strafrecht sind zum bloßen Nischenthema geworden.
Erfolgreiche Pilotprojekte im Vollzug werden aus Sorge vor Unpopularität, wegen
gesellschaftlich fehlender Mehrheiten oder wechselnder Machtverhältnisse oft
nicht flächendeckend umgesetzt, ein einmal erhöhtes Strafmaß nicht mehr
zurückgestuft. Dabei wäre eine evidenzbasierte Kriminalpolitik ein wesentlicher
Beitrag zur Modernisierung unserer Gesellschaft.
Der Strafvollzug soll zudem die unmögliche Aufgabe vollbringen, einerseits eine
100%ige Sicherheit vor weiteren Straftaten und Flucht zu gewährleisten und
andererseits die Ursachen für Straftaten bei den Inhaftierten zu beheben und sie
nahtlos wieder in die Gesellschaft zu entlassen. Zum einen ist jedoch klar, dass
es in keinem Bereich unserer Gesellschaft eine 100%ige Sicherheit geben kann.
Zum anderen bringt der Vollzug als totale Institution viele Gegebenheiten mit
sich, die einer Resozialisierung eher entgegenwirken, als sie zu befördern. Es
ist kaum möglich, Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, indem man sie
ausschließt. Die Rundumversorgung der Inhaftierten und die Abhängigkeit von den
Regeln und fremden Entscheidungen in der Anstalt tragen nicht zum Erlernen
sozialer Kompetenzen und zu einem eigenverantwortlichen Leben bei. Viele
Inhaftierte werden in den
Justizvollzugsanstalten, beispielsweise durch die Bildung von so genannten
Subkulturen, eher weiter in die Kriminalität hineingezogen. Dazu kommt, dass die
Bedingungen der Inhaftierung und der in den Justizvollzugsanstalten bestehende
Sicherheitsanspruch, der beispielsweise durch Überwachung und Kontrollen zum
Ausdruck kommt, hinderlich für ein vertrauensvolles Behandlungsklima sind.
Häufig steht die Behandlung von Inhaftierten hinter dem gesellschaftlichen
Sicherheitsbedürfnis zurück. Spätestens ab dem Zeitpunkt der Entlassung trägt
dies jedoch zu einem widersprüchlichen Ergebnis für die öffentliche Sicherheit
bei - nämlich einer überdurchschnittlichen erneuten Straffälligkeit im Vergleich
zu ambulanten Maßnahmen.
Trotz der benannten Herausforderungen können therapeutische Angebote in den
Justizvollzugsanstalten einen wichtigen Beitrag für die Resozialisierung der
Inhaftierten leisten. Nur einem geringen Teil der Inhaftierten steht jedoch die
Möglichkeit einer Sozialtherapie offen. Eine produktive Teilnahme von
Inhaftierten an einer Sozialtherapie ist in vielen Fällen außerdem ein wichtiges
Element für eine positive Kriminalprognose und somit eine Voraussetzung für
Lockerungen, die die Inhaftierten auf die Zeit nach der Entlassung vorbereiten
sollen.
2. Unsere Ziele
Zur Erreichung eines modernen und evidenzbasierten Umgangs mit Straftaten
stellen wir zwei Hauptanliegen in den Fokus.
Wir wollen die Verhängung der Freiheitsstrafe reduzieren. Dazu sollte zunächst
eine Entrümplung des Strafgesetzbuches (StGB) beitragen. Strafe ist Ultima Ratio
staatlichen Handelns. Der gesetzliche Auftrag der Resozialisierung ist für uns
die wichtigste Maßgabe und oberste Priorität für alle Aspekte des Vollzuges.
Verhaltensweisen, die nicht strafwürdig sind, sollten im StGB auch nicht unter
Strafe gestellt werden; konkret das Fahren ohne gültigen Fahrausweis sowie der
Besitz und der Konsum von Cannabis. Die Ersatzfreiheitsstrafe sollte gänzlich
abgeschafft werden. Denn ein Freiheitsentzug für Bürger*innen, die eine
Geldstrafe nicht zahlen können, ist unangemessen und benachteiligt Menschen mit
geringem Einkommen strukturell. Insgesamt wollen wir Alternativen zum
Strafvollzug stärken. Anstelle der Freiheitsstrafe sind ambulante Maßnahmen eine
nachhaltigere Antwort auf eine Straftat. Deshalb sollen neue ambulante Strafen
im StGB verankert und bestehende gestärkt werden.
Zweitens muss der Strafvollzug menschlich und modern ausgestaltet sein. Bei
schwereren Straftaten ist die Anordnung einer Freiheitsstrafe aktuell
unvermeidlich. Ein Strafvollzug, der mehr tut, als die Inhaftierten
wegzusperren, ist ein Gebot der Menschenwürde. Gute personelle und finanzielle
Ressourcen für Behandlungs- und Bildungsangebote in den Justizvollzugsanstalten
sind für eine Resozialisierung unerlässlich. Schließlich kehren Inhaftierte nach
Verbüßung der Freiheitsstrafe in die Gesellschaft zurück und sollen dort
zurechtkommen, ohne dass sie erneut Straftaten begehen.
a) Freiheitsstrafe reduzieren
aa) Strafrecht entrümpeln
Strafe darf nur Ultima Ratio staatlichen Handelns sein. Das Strafrecht, welches
regelmäßig Handlungsfeld von populistischen Debatten war und ist, muss mit
dieser Maxime entrümpelt werden. Nicht jedes gesellschaftlich unerwünscht
Verhalten kann und sollte mit den Mitteln des Strafrechts begegnet werden.
Zuvorderst fordern wir vor diesem Hintergrund die Entkriminalisierung des
Fahrens ohne gültigen Fahrausweis im Sinne des Erschleichens von Leistungen (§
265a Abs. 1 Var. 3 StGB). Rund zehn Prozent aller Verurteilungen nach
allgemeinem Strafrecht gehen auf diesen Straftatbestand zurück. Dabei ist das
vermeintlich geschaffene Unrecht so gering, dass es in den Bagatellbereich
fällt.
Konsument*innen von Cannabis gehören ebenso wenig bestraft wie Konsument*innen
von Alkohol. Wir befürworten deshalb den Beschluss der Bundesregierung, eine
kontrollierte Abgabe von Cannabis zu legalisieren, als einen wichtigen Schritt,
Kapazitäten der Ermittlungsbehörden für schwere Straftaten freizulegen,
kriminelle Strukturen zu schwächen sowie unseren gesellschaftlichen Umgang mit
Drogenkonsum zu verändern und die Prävention sowie die Unterstützung und Hilfe
bei Abhängigkeit auszubauen.
bb) Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 Strafgesetzbuch) abschaffen
Wir setzen uns für eine vollständige Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe ein.
Die Reform der Bundesregierung, wonach die Ersatzfreiheitsstrafe halbiert werden
soll, ist ein erster Schritt, löst jedoch nicht die strukturellen Probleme, die
mit der Ersatzfreiheitsstrafe an sich einhergehen. Ersatzfreiheitsstrafen
betreffen in Deutschland circa 50.000 Menschen im Jahr, weil sie eine
gerichtlich auferlegte Geldstrafe nicht zahlen (können). Gerade eine kurze
Inhaftierung ist für die Betroffenen meist mit schwerwiegenden Folgen auch nach
der Entlassung verbunden. Die Inhaftierung geht beispielsweise häufig mit dem
Verlust der Wohnung einher, was die geordnete Lebensführung nach der
Haftentlassung weiter erschwert. Hinzu kommen die kritischen Punkte, die
Kurzstrafen insgesamt betreffen. So sind etwa eine Behandlung in Form einer
Suchttherapie bei einer so kurzen Dauer nicht möglich.
Auch aus Perspektive des Justizvollzugs wäre die Abschaffung vorteilhaft. Rund
ein Zehntel aller Inhaftierten sitzt eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Die dafür
gebundenen Kapazitäten sind für einen besseren Betreuungsschlüssel deutlich
sinnvoller eingesetzt.
cc) Alternative Sanktionen im Strafgesetzbuch und Jugendgerichtsgesetz verankern
und stärken
(1) Restorative Justice / Täter-Opfer-Ausgleich
Wir wollen die Etablierung von Restorative Justice vor, neben und nach dem
Strafverfahren voranbringen. Grundsätzliche Voraussetzung ist dabei immer die
Freiwilligkeit der Teilnahme für Täter*in und Opfer. Der Ansatz der Restorative
Justice stellt die Bedürfnisse von Opfern einer Straftat in den Mittelpunkt.
Diese Bedürfnisse können beispielsweise gerichtet sein auf eine
Schadensanerkennung durch den/die Täter*innen und das soziale Umfeld, darauf
dass durch die Straftäter*innen nicht weitere Menschen zu Opfern werden, auf
Antworten auf ihre Fragen nach dem Motiv für die Tat und auf Schadensersatz,
Wiedergutmachung und Ausgleich. Im Gegensatz zum Strafverfahren, in dem es für
Betroffene lediglich möglich ist als Nebenkläger*innen aufzutreten und die oben
genannten Bedürfnisse häufig keine Berücksichtigung finden können, geht es bei
Restorative Justice darum einen umfassenderen Ausgleich für das Opfer zu
erreichen, „to make things right“. In diesem Konzept werden Straftaten als
Schädigung von Menschen und ihren Beziehungen betrachtet. Opfer haben die
Gelegenheit, diese genau zu benennen und Täter*innen zu konfrontieren. Für
Täter*innen erwachsen daraus Verpflichtungen, die sie allerdings erst einlösen
können, wenn sie in die Lage versetzt werden, Verantwortung zu übernehmen. Dies
setzt eine intensive Arbeit mit den Täter*innen voraus, durch die sie einen
Zugang zu ihren Werten und Emotionen erlangen können.
Rechtliche Grundlagen für diesen Ansatz finden sich im geltenden Strafrecht zum
Beispiel beim Täter-Opfer-Ausgleich. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass
Staatsanwaltschaften und Gerichte in jedem Stadium des Verfahrens die
Möglichkeiten prüfen, einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem zu
erreichen. Bemüht sich der Täter oder die Täterin ernsthaft um einen Täter-
Opfer-Ausgleich, kann die Staatsanwaltschaft oder das Gericht das Verfahren
einstellen. Möglich ist alternativ auch eine Milderung der Strafe durch das
Gericht. Bislang kommt der Ausgleich insgesamt zu wenig und gerade bei schwerer
Kriminalität kaum zum Einsatz. Länder wie Belgien zeigen jedoch, dass dies auch
bei Gewaltkriminalität möglich ist und nicht nur den Bedürfnissen der
Betroffenen von Gewalt Rechnung tragen kann, sondern auch die Rückfallquote von
Täter*innen deutlich reduziert. Unser Ziel ist es, den Zugang von Betroffenen
von Straftaten zum Täter- Opfer-Ausgleich zu gewährleisten, wenn dies in ihrem
Interesse ist. Deshalb fordern wir den Bund auf, die Vorschriften für den Täter-
Opfer-Ausgleich zu überarbeiten und seinen Anwendungsbereich zu erweitern sowie
zusätzliche alternative Wiedergutmachungsverfahren, die in ausländischen
Strafverfahrensordnungen bereits etabliert sind, in das deutsche Recht zu
überführen und dabei Opferinteressen und die Ansätze der Restorative Justice zu
Grunde zu legen.
(2) elektronische Aufenthaltsüberwachung als milderes Mittel zur Freiheitsstrafe
Wir setzen uns für eine Änderung im StGB ein, die als milderes, Mittel zur
Verhängung einer Freiheitsstrafe die gerichtliche Anordnung einer
grundrechtsschonenden Form der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (bekannt
als elektronische Fußfessel) unter sozialtherapeutischer Begleitung als
alternative Sanktionsform vorsieht. Die elektronische Aufenthaltsüberwachung als
Mittel zur Gefahrenabwehr, etwa für so genannte Gefährder*innen lehnen wir als
Bürger*innenrechtspartei strikt ab.
(3) Verstärkte Anwendung von § 35 Betäubungsmittelgesetz
Wir befürworten zudem eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 35
Betäubungsmittelgesetz (BtMG), wonach die Strafvollstreckung für eine Behandlung
zurückgestellt werden kann, wenn ein Zusammenhang zwischen dem Delikt und einer
Suchterkrankung besteht. Voraussetzung ist auch hier, dass ausreichend
anerkannte Anlaufstellen vorhanden sind, um einen Behandlungsplatz zu erhalten.
Wir setzen uns dafür ein, die Zahl der Behandlungsplätze für Menschen mit
Suchtmittelabhängigkeit außerhalb des Vollzuges zu erhöhen.
(4) Jugendhilfe ausbauen
Ambulante Angebote und haftvermeidende Maßnahmen für Jugendliche müssen im JGG
ausgebaut werden. Die Anwendung von Täter-Opfer- Ausgleich oder Anti-
Aggressionstrainings können die Rückfallquoten im Jugendstafrecht ebenfalls
deutlich reduzieren. Für geeignete familiäre Situationen sollen auch so genannte
Familienkonferenzen, nach neuseeländischem Vorbild gefördert werden. Sie sind
eine Methode des Restorative Justice. Die Familie der Täter*in wird einbezogen
in die Auseinandersetzung mit der Tat und stützt den
Verantwortungsübernahmeprozess. Vereinbarungen zur Wiedergutmachung können so
mit Unterstützung der Familie umgesetzt werden. Auch hier sind die Bedürfnisse
der Opfer Grundlage für das Verfahren.
Wir setzen uns dafür ein, das niederländische Modell HALT auch in Deutschland zu
erproben. In diesem müssen sich Jugendliche Straftäter*innen unter Betreuung mit
ihren Straftaten auseinandersetzen, lernen um Entschuldigung zu bitten,
Schadenersatz zu zahlen und mit Arbeitsstunden eine „nützliche“ Strafe zu
verbüßen. Wenn sie diese Bedingungen erfüllen, gelten sie als nicht vorbestraft
und sind so weniger stigmatisiert. Hierfür gilt es die entsprechenden
bundesgesetzlichen Regelungen zu ändern.
b) Strafvollzug menschlich und modern
Strafvollzug bedeutet für die Inhaftierten den Eintritt in einen fast
vollständig fremdbestimmten Alltag. Ein moderner Strafvollzug ist menschenwürdig
ausgestaltet und darauf ausgerichtet, die Inhaftierten so gut wie möglich auf
ein straffreies Leben nach der Entlassung vorzubereiten. Besondere Beachtung und
entsprechende Angebote verdienen dabei jene Gruppen, die gesamtgesellschaftlich
bereits strukturell benachteiligt werden. Besondere Vollzugsformen sollten als
Alternative zum klassischen Justizvollzug stärker gefördert werden. Außerdem
muss Resozialisierung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen werden, die
nicht mit der Entlassung endet.
aa) Rentenversicherung und Entlohnung
Inhaftierte, die in den Justizvollzugsanstalten einer Erwerbstätigkeit
nachgehen, sollten auch in die Rentenversicherung einzahlen. Wir fordern den
Bundesgesetzgeber auf, dies umzusetzen und die Kosten hierfür zu tragen.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Entlohnung von Inhaftierten, die einer
Erwerbstätigkeit nachgehen, im Lichte der bevorstehenden Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts überprüft und entsprechend angepasst wird.
bb) Besondere Bedarfe, besondere Angebote
(1) Frauen im Vollzug
In Sachsen stehen 7% der Haftplätze für Frauen aus Sachsen und Thüringen in der
Justizvollzugsanstalt Chemnitz zur Verfügung. Frauen sind eine Minderheit unter
den Inhaftierten. Dies macht die angestrebte wohnortnahe Unterbringung häufig
unmöglich, resultiert in deutlich größerem Aufwand für Besuche von Angehörigen,
die jedoch für eine Resozialisierung so wichtig sind und ermöglicht gleichzeitig
in viel geringerem Maße einer Differenzierung nach Alter und Deliktsart. Durch
unsere Bündnisgrüne Initiative gibt es nun auch ein eigenes Angebot für den
Vollzug in freien Formen für Frauen.
Wir setzen uns dafür ein, dass auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der
Geschlechter im Vollzug auch gesetzlich differenzierter eingegangen werden soll.
Zudem müssen Mitarbeiter*innen für die Bedürfnisse weiblicher Inhaftierter
sensibilisiert werden und ein umfassender Schutz vor Missbrauch im Justizvollzug
zu gewährleisten.
Ein hoher Anteil an Frauen mit Substanzabhängigkeiten in Frauenhaftanstalten
verhindert zudem, dass Frauen in den offenen Vollzug oder zusammen mit ihren
kleinen Kindern in der Mutter-Kind-Station leben können. Dabei ist gerade die
Eltern-Kind-Beziehung zu schützen.
(2) sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Vollzug
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sind Realität in unserer Gesellschaft und
damit auch Realität in Justizvollzugsanstalten. Bündnisgrüne in Sachsen setzen
sich dafür ein, im Rahmen der Novellierung des Landesaktionsplans Vielfalt (LAP)
auch den Justizvollzug einzubeziehen. Im Mittelpunkt muss die niedrigschwellige
Informations- und Beratungsmöglichkeit stehen.
Wir setzen uns für die Schaffung gesetzlicher Grundlagen im Bereich tin*Personen
(trans*, inter* und nicht-binäre Personen) für den Vollzug ein. Staatliche
Verwaltung sollte dabei die Expertise queerer NGO´s miteinbeziehen. Die Bedarfe
queerer Inhaftierter müssen ermittelt und ein Leitfaden bezüglich sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt für Mitarbeiter*innen der Justizvollzugsanstalten
erstellt werden. Zudem regen wir an, dass Ansprechpersonen für queere Anliegen
ernannt und bekannt gemacht werden. Beratungsangebote müssen niedrigschwellig
verfügbar sein und bekannt gemacht werden. Die Voraussetzungen für einen Zugang
für medizinische Transition müssen ermittelt werden.
(3) Suchtmittelabhängigkeit
Justizvollzugsanstalten sind keine drogenfreien Räume. Rund jede*r dritte
Inhaftierte in Deutschland ist von einer oder mehreren Drogen abhängig.
Suchtberatung und Suchttherapie während der Inhaftierung und darüber hinaus sind
deshalb zentrale Bausteine für eine erfolgreiche Resozialisierung. Sie
verringern während der Haftzeit die Wahrscheinlichkeit einer Rückfälligkeit. Oft
ist der Zugang in den Justizvollzugsanstalten jedoch sehr reglementiert, da es
zu wenige Plätze gibt. Wir setzen uns dafür ein die Kapazitäten für
Suchttherapien im Justizvollzug auszubauen.
Es gibt jedoch eine nicht geringe Anzahl von Menschen, für die ein
„Normalzustand Abstinenz“ nicht erreichbar ist. Mit Hilfe von Substitution kann
der Suchtdruck für die Betroffenen verringert und der Allgemeinzustand der
Betroffenen verbessert werden, was zum Beispiel bedeutet, dass Substituierende
weniger psychische Probleme haben und einen normalen Alltag aufbauen können.
Außerdem sollen Not- und Todesfälle durch Überkonsum in den
Justizvollzugsanstalten damit eingedämmt werden. Auch die Verbreitung von
Infektionskrankheiten, wie Hepatitis C und HIV durch den Handel mit Spritzen
soll durch Substitution eingedämmt werden. Wir setzen uns für den Zugang zu
Substitution bei Bedarf ein und zudem für den Zugang zu durchgängig erreichbaren
Ansprechstellen (und die dafür benötigten Ressourcen) über die Haftzeit hinaus.
(4) Menschen mit psychischen Erkrankungen
Nach einem Strafverfahren ist nicht jede*r Angeklagte*r mit einer
behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung automatisch im Maßregelvollzug
untergebracht. Vielmehr erfolgt eine solche Unterbringung aufgrund verminderter
Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat, die nicht zwingend
aus einer psychischen Erkrankung hervorgehen muss.
Im Regelvollzug ist der Anteil von Menschen mit psychischen Erkrankungen jedoch
im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht. Die Ausnahmesituation
Freiheitsentzug kann diese verstärken oder auslösen. Behandlungsbedürftige
psychische Erkrankungen können sich negativ auf die Kriminalprognose und den
Resozialisierungsprozess auswirken. Umso entscheidender ist die geeignete
Versorgung mit therapeutischer Begleitung für diese Menschen während des
Strafvollzuges, bei Entlassung und Entlassungsvorbereitung. Für viele Betroffene
kann für eine erfolgreiche Resozialisierung ein erhöhter Begleitaufwand, gerade
in der Entlassungsphase erforderlich sein.
Psychotherapeut*innen im Strafvollzug müssen in ihrer Arbeit mit einem ständigen
Konflikt zwischen Schweigen und Offenbaren umgehen. Neben einer
Offenbarungspflicht, die die Gefahr von Leib und Leben betrifft, geht die
Offenbarungspflicht von Therapeut*innen gegenüber der Anstaltsleitung im Vollzug
oftmals weit darüber hinaus. Wir setzen uns für die Begrenzung der
Offenbarungspflichten für behandelnde Psycholog*innen ein. Perspektivisch sind
weitere Überlegungen dazu anzustellen, ob Entscheidungen über Lockerungen und
Unterbringungen in andere Vollzugsformen als den geschlossenen Vollzug zum
Schutz des therapeutischen Raums in den Justizvollzugsanstalten durch
Strafvollstreckungskammern getroffen werden sollen. Damit einhergehen könnte
auch die Schweigepflicht für die mit therapeutischen Aufgaben Betreuten in den
Justizvollzugsanstalten.
(5) ausländische Inhaftierte und Inhaftierte mit internationaler Geschichte
Der Anteil ausländischer Inhaftierter in Sachsen beläuft sich, Stand 2019, auf
rund 24%. Sie und auch Inhaftierte mit internationaler Geschichte sind besonders
vor Diskriminierung zu schützen. Drohungen, Beleidigungen und Gewalt durch
andere Inhaftierte aufgrund menschenfeindlicher Einstellungen, wie Rassismus,
Antiromaismus und Antisemitismus, können mittelbar zu Traumata führen. Auch
diskriminierende Übergriffe durch Bedienstete der Justizvollzugsanstalten, wie
etwa die Fälle rassistischer Gewalt in der Justizvollzugsanstalt Dresden, sind
inakzeptabel. Wir setzen uns dafür ein, dass der Kampf gegen menschenfeindliche
Einstellungen, wie bei anderen Institutionen des öffentlichen Dienstes, auch im
Justizvollzug einen höheren Stellenwert einnimmt. Dies gilt aufgrund des
Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Bediensteten und Inhaftieren im
Justizvollzug in besonderem Maße.
Mit einer Diversitätsoffensive sollen zudem migrantische und postmigrantische
Auszubildende und Studierende für eine Tätigkeit im Justizvollzug angeworben
werden, wie dies bereits in einigen Bundesländern bei der Polizei erfolgreich
praktiziert wird. Das Videodolmetschen mit qualifizierten Sprachmittler*innen
wird dauerhaft verankert, um den Zugang zu absolut notwendiger Kommunikation,
wie die Wissensvermittlung über Ansprechpartner*innen aber auch bei
gesundheitsbedingter Kommunikation mit Pfleger*innen, Ärzt*innen und
Psycholog*innen mit nicht oder wenig deutschsprechenden Inhaftierten zu
gewährleisten. Ebenso ist die Möglichkeit der Videotelefonie unerlässlich für
den Kontakt mit in großer Entfernung lebenden Verwandten und Vertrauten. Wir
begrüßen zudem die kürzlich erfolgte Ausschreibung für die Stelle eines
muslimischen Seelsorgenden in den sächsischen Justizvollzugsanstalten, der das
Angebot der Seelsorge endlich erweitern wird.
cc) Besondere Vollzugsformen
Innerhalb des Vollzugs setzen wir auf eine fortschrittliche Entwicklung, zu
dieser wir beispielsweise eine bessere Auslastung des offenen Vollzuges zählen.
Dazu müssen rechtliche Änderungen umgesetzt und ein progressiveres Verständnis
der Förderung von Inhaftierten und der positiven Bedeutung von gelingenden
Resozialisierungsmaßnahmen in der Gesellschaft als Ganzes erreicht werden. Ein
abgestuftes Vollzugsmodell, in welchem Inhaftierte in der Regel vor der
Entlassung in den offenen Vollzug verlegt werden, soll gesetzlich verankert
werden. Wir setzen uns dafür ein, im Wohngruppenvollzug eine Betreuung mit
konstantem Personal sicherzustellen, um die Möglichkeit für tragfähige Bindungen
zu schaffen. Hierfür ist der Personalschlüssel im Justizvollzug weiter zu
verbessern. Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass die Personalbedarfsberechnung
im Justizvollzug künftig zur verbindlichen Grundlage für die Personalausstattung
der Justizvollzugsanstalten wird.
Sachsen hat durch Bündnisgrüne Beteiligung deutschlandweit die Vorreiterrolle im
Bereich des Vollzuges in freien Formen. Diese gilt es aufzubauen,
fortzuentwickeln und positiven Aspekte dieser Angebote einer immer größeren Zahl
an Inhaftierten zu ermöglichen. Merkliche Verbesserungen für Inhaftierte und
Gesellschaft als Ganzes gelingen nur bedingt durch Leuchtturmprojekte, sondern
vor allem, wenn die Möglichkeiten sachsenweit zur Verfügung stehen.
Besondere Beachtung verdient zudem der Jugendstrafvollzug. Anders als im
Erwachsenenvollzug, ist der Auftrag des Jugendstrafvollzuges in erster Linie die
erzieherische Einwirkung. Mit einer Rückfallquote von bis zu 70% wird deutlich,
wie groß der Handlungsbedarf im Umgang mit jungen Straftäter*innen ist. Unser
Ziel ist es, Jugendliche in Alternativen zum Strafvollzug zu betreuen, um ihre
Chancen auf ein straffreies Leben zu erhöhen. Projekte, die bereits Erfolge
gezeigt haben und die zu einer starken Reduktion der Rückfälligkeit geführt
haben, wollen wir stärken und so einen Beitrag zum Umbau des Vollzuges leisten.
Dazu zählt der Vollzug in freien Formen für Jugendliche, wie ihn der Seehaus
e.V. anbietet. Dort leben straffällig gewordene Jugendlichen einem geschulten
Familienverband und werden in einem routinierten Tagesablauf betreut. Auch
andere Projekte, wie das Modellprojekt RESI (Resozialisierung und soziale
Integration), welches im Kölner Umland von 2009-2013 durchgeführt wurde und eine
Rückfallquote von nur 13% hatte, können hierfür Impulse bieten.
dd) Resozialisierung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Für das Gelingen von Resozialisierung ist nicht allein der Justizvollzug
verantwortlich. Es braucht vielmehr ein engmaschiges Netz, das Straffällige auf
ihrem Weg in ein Leben ohne Kriminalität unterstützt. Dieses Netz sollte auch
nach der Entlassung aus der Inhaftierung nicht plötzlich wegfallen. Wir setzen
uns für eine Ausweitung des Übergangsmanagements ein, etwa durch die Einrichtung
von sozialen Integrationszentren auf kommunaler Ebene, die die Versorgung von
straffällig gewordenen Menschen und ihren Angehörigen, auch über die Haftzeit
hinaus gewährleisten. Alle an der Resozialisierung mitwirkenden Institutionen,
staatliche und freie Träger, sollen sich in diesem Zentrum vernetzen.
Wir setzen uns dafür ein, die in vielen Ländern bereits genutzten Housing-first-
Projekte, wie in der Stadt Leipzig, zu fördern und dauerhaft zu verankern. Auf
diese Weise wird der Kriminalität infolge von Obdachlosigkeit entgegengewirkt.
Das aus den USA stammende Konzept Housing-first, welches bereits in vielen
Ländern, wie etwa Finnland zur Anwendung kommt, setzt darauf, dass Menschen
zuerst eine Wohnung bereitgestellt wird damit überhaupt die Möglichkeit besteht,
das eigene Leben zu ordnen und sich um vielschichtige Problemlagen zu kümmern.
3. Ausblick
In vielen Fällen ist Kriminalität das Ergebnis gesellschaftlicher Missstände.
Wir setzen uns für eine Politik ein, die der sozialen Spaltung etwas
entgegensetzt, Armut und Ausgrenzung verringert und kriminellen Biographien
vorbeugt. Viele Menschen haben keinen Zugang zu niedrigschwelliger
psychologischer Betreuung, zu Unterstützung beim Kampf gegen Sucht oder zu
Beratung bezüglich ihrer finanziellen Situation. Für den Ausbau dieser
Unterstützung muss der Staat mehr Mittel zur Verfügung stellen, das System des
Zugangs zu Beratungsangeboten grundlegend verändern und die Ausbildungen für die
zugehörigen Berufe attraktiver gestalten. Unsere Gesellschaft muss lernen,
besser mit Fehlern und Konflikten umzugehen und diesem Umgang einen größeren
Raum geben, um sie nachhaltig zu beheben und lösen. Wir setzen uns dafür ein,
dass bereits Kinder gemeinsam lernen, welche Möglichkeiten es gibt, um Konflikte
auszutragen und zu lösen.
Politik, die sich für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller
Menschen einsetzt und die Stigmatisierung den Kampf ansagt, ist verpflichtet
sich ernsthaft mit dem Thema Strafvollzug auseinanderzusetzen. Es ist unsere
Aufgabe, eine Antwort auf die Frage nach Strafe und Freiheitsentzug in einer
modernen Gesellschaft zu finden und uns nicht mit Populismus zufriedenzugeben.
Der Justizvollzug darf mit dieser Aufgabe ebenso wenig allein gelassen werden,
wie mit der Resozialisierung der Inhaftierten. Wir Bündnisgrüne erkennen diese
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aller staatlichen und kommunalen Strukturen
an und stehen für eine noch besser werdende Ausstattung mit Personal- und
Sachressourcen ein. Ideologisch verkürzten Rufen nach besonderer Härte und
Schärfe durch und im Vollzug, rächen sich am Ende für die Gesellschaft durch
hohe Rückfallquoten in die Straffälligkeit. Ihnen treten wir entschieden
entgegen, da die negativen Folgen einer nicht hinreichend auf Resozialisierung
ausgerichteten Kriminalitäts- und Strafrechtspolitik nicht länger verdrängt
werden sollten.
Mit der Umsetzung von Alternativen zum Strafvollzug und mit der Evaluierung
ihrer Erfolge wollen wir gesellschaftliche Akzeptanz für eine Wandlung des
Vollzuges schaffen. Es wird immer Inhaftierte geben, die im geschlossenen
Vollzug untergebracht werden müssen. Für Viele, die derzeit in einer
Justizvollzugsanstalt eine Strafe verbüßen, gäbe es jedoch deutlich sinnvollere
Wege ihre Strafe zu verbüßen. Langfristig ist es unser Ziel, die Unterbringung
der meisten Straftäter*innen in alternativen Formen zum derzeitigen Vollzug
voranzubringen und so eine nachhaltigere Resozialisierung zu erreichen.