Veranstaltung: | 56. Landesversammlung |
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Tagesordnungspunkt: | 10. Weitere Anträge (V-Anträge) |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Katja Meier |
Eingereicht: | 03.03.2023, 10:45 |
Renten, Löhne, Mitbestimmung: Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit zwischen Ost und West – Beteiligung Sachsens am DDR-Renten-Härtefallfonds jetzt!
Beschlusstext
Wir sehen, dass gefühlte und tatsächliche Ungerechtigkeiten relevant dafür sind,
wie stark Vertrauen in Demokratie und Politik ist. Die Debatte über den vom Bund
eingerichteten DDR-Renten-Härtefallfonds führt gerade klar vor Augen, dass es
dabei um mehr als nur um Rentengerechtigkeit geht. Es geht um eine
Gerechtigkeitsdebatte, die auch drei Jahrzehnte nach der Friedlichen Revolution
noch nicht zu Ende geführt ist – es geht um die immer noch bestehenden
wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen Ost und West als Ganzes, um
die Anerkennung von Lebensleistungen älterer Generationen und die Schaffung von
Chancen für neue. Dass diese Ungerechtigkeiten stark gefühlt werden und das seit
vielen Jahren, macht etwas mit Menschen und mit ihrem Vertrauen in Politik. Das
Gefühl zu haben, dass die eigene Lebensleistung nicht anerkannt wird und man
dadurch nun zum Teil von Altersarmut betroffen ist, ist bitter. Da ist viel
Demütigung geschehen und diese anzuerkennen gehört zur Betrachtung des
Einheitsprozesses dazu.
Zu den strukturellen Ungleichheiten gehört beispielsweise nach wir vor, dass ein
Durchschnittshaushalt West doppelt so wohlhabend ist wie ein
Durchschnittshaushalt Ost. 12.200 Euro verdienten Menschen in Ostdeutschland
2022 im Schnitt pro Jahr weniger als Menschen in Westdeutschland, Tendenz:
steigend. 2020 lag die Differenz noch bei 11.967 Euro. Auch die Angleichung von
Löhnen und Renten sind offene Baustellen. Ostdeutsche Rentenbeziehende lebten
2021 mit durchschnittlich 200 Euro weniger Rente pro Monat als westdeutsche
Rentenbeziehende. 2021 waren in Westdeutschland 16,3 %, in Ostdeutschland 17,9 %
von Armut bedroht. Gleichzeitig darf nicht unerwähnt bleiben, dass ostdeutsche
Rentnerinnen und Rentner kaum zusätzliche Einkünfte aus privaten oder
betrieblichen Renten oder Einnahmen aus Mieten und Pachten haben.
In Ostdeutschland gibt es darüber hinaus weiterhin Aufholbedarf in der
Wirtschaftskraft, bei qualifizierten Arbeitskräften und der Verringerung des
Armutsrisikos. Der Anteil ostdeutscher Menschen in Entscheidungsstrukturen der
Wirtschaft, Politik, Justiz, Verwaltung, Kultur und Wissenschaft ist zu gering
und dass diese Sichtweisen dann fehlen, liegt auf der Hand. So sind in den
Bundesbehörden lediglich knapp 14% der Führungspositionen von Ostdeutschen
besetzt. Dabei sieht Artikel 36 unseres Grundgesetzes explizit vor, dass „bei
den obersten Bundesbehörden Beamtinnen und Beamte aus allen Ländern in
angemessenem Verhältnis“ einzusetzen sind. Nach dem Wortlaut wären in den
Bundesministerien („oberste Bundesbehörden“) Menschen aus allen Bundesländern
und in allen anderen Bundesbehörden Menschen aus dem Land zu beschäftigen, in
dem die Behörde ihren Sitz hat.
In diese Debatte gehören genauso auch die Herausforderungen des demografischen
Wandels und der sukzessive Strukturabbau, wie wir ihn beispielsweise bei den
Schulschließungen in den 90er-Jahren und zur Jahrtausendwende oder beim Rückbau
von Bahninfrastruktur erlebt haben.
Am aktuellen Thema der Beteiligung des Freistaats Sachsen am DDR-Härtefallfonds
Renten zeigt sich, dass auch landespolitische Akteurinnen und Akteure ihrer
Verantwortung nachkommen müssen. Während wir inzwischen dank des Engagements
Vieler bei der Angleichung der Renten zwischen Ost und West weitergekommen sind,
bleibt die Thematik der DDR-Zusatz- und Sonderrenten von einzelnen Berufsgruppen
nach wie vor ungelöst. Dies betrifft insbesondere Krankenschwestern,
freischaffende bildende Künstlerinnen und Künstler, Balletttänzerinnen und -
tänzer sowie in der DDR geschiedene Frauen. Denn die nach der Wiedervereinigung
übergeleitete gesetzliche Rentenversicherung auf die neuen Bundesländer sowie
die einheitliche Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus den Zusatz-
und Sonderversorgungssystemen der ehemaligen DDR in das gesamtdeutsche
Rentenrecht ließen einige Tatbestände unberücksichtigt, da diese mit dem lohn-
und beitragsbezogenen System des SGB VI unvereinbar waren. Die zahlenmäßig
höchste Gruppierung der geschiedenen Frauen wird auf ca. 300.000 Personen
geschätzt, von denen ca. ein Drittel noch am Leben sind.
Die Ampelkoalition hat nun, um einen Beitrag zur Abmilderung der Verfehlungen
aus der Rentenüberleitung im Rahmen der Wiedervereinigung zu leisten, einen
Härtefallfonds für DDR-Rentnerinnen und -Rentner, jüdische Kontingentflüchtlinge
und Spätaussiedlerinnen und -aussiedler eingerichtet. Nach einem langjährigen,
parteiübergreifenden Prozess wurde dieser Fonds mit 500 Millionen Euro
aufgesetzt. Die Begünstigten des Härtefallfonds erhalten auf Antrag und nach
Bedürftigkeit pauschale Einmalzahlungen in Höhe von mindestens 2.500 Euro.
Dieser Betrag erhöht sich auf 5.000 Euro, sofern sich das jeweilige Bundesland
an dem Fonds beteiligt. Bis zum 31.03.2023 können sich die Länder zu einer
hälftigen finanziellen Beteiligung entscheiden. Bisher hat bereits Mecklenburg-
Vorpommern seinen Beitritt erklärt. Der Fonds ist ein Schritt zur Abmilderung
der Härtefälle aus Ost-West-Rentenüberleitungen, insbesondere für die inzwischen
hochbetagten und armutsgefährdeten Betroffenen. Er löst viele Herausforderungen
für die Betroffenen zwar nicht abschließend, es ist jedoch das erste Mal, dass
überhaupt etwas für die betroffenen Gruppen getan wird.
Insbesondere Landespolitiker der sächsischen CDU begründen ihre Ablehnung zum
Beitritt Sachsens damit, dass Rentenrecht Bundesrecht sei. Diese Argumentation
überzeugt uns als Bündnisgrüne nicht und wir widersprechen ihr entschieden,
denn: Sachsen zahlt schon seit vielen Jahren jährlich einen dreistelligen
Millionenbetrag für die Sonderrenten aus DDR-Zusatzversorgungssystemen. Das
betrifft u.a. Personen, die bei der NVA, der Volkspolizei, der Zollverwaltung
oder der Stasi gearbeitet haben und welche, die die SED-Diktatur maßgeblich mit
gestützt haben. Es ist den Menschen im Freistaat nicht vermittelbar, dass diese
Personengruppen ihre Zusatzrenten bekommen und Menschen, um die es jetzt im
Härtefallfonds geht, z.B. Kontingentflüchtlinge, nicht bedacht werden sollen,
wenn es nach der Union geht. Das finden wir falsch.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen fordern:
1. Die sächsische Staatsregierung soll sich an dem eingerichteten Härtefallfonds
für bedürftige DDR-Rentenbeziehende, jüdische Kontingentflüchtlinge und
Spätausgesiedelte beteiligen und eine deutliche und zentrale Kommunikation auf
Bundesratsebene forcieren, um noch unbeteiligte und unentschlossene Bundesländer
von einer Beteiligung zu überzeugen. Wir fordern das zuständige Sächsische
Sozialministerium auf, Worten Taten folgen zu lassen und die
haushaltsrechtlichen Möglichkeiten zu nutzen, um die benötigte Summe in Höhe von
ca. 60 Millionen Euro bereitzustellen. Wir fordern weiterhin das Sächsische
Staatsministerium der Finanzen auf, diesen Weg nicht zu blockieren.
2. Zudem soll sich Sachsen dafür einsetzen, dass die Frist für die
Antragstellerinnen und -steller für eine Auszahlung aus dem Fonds verlängert
wird.
3. Die Sächsische Staatsregierung wird aufgefordert, sich auf Bundesebene für
eine Ausweitung des Fonds für weitere betroffene Gruppen einzusetzen und die
finanzielle Beteiligung des Landes sicherzustellen.
- Als weitere Maßnahmen zum Abbau von Ungerechtigkeiten zwischen Ost und
West wird die sächsische Staatsregierung aufgefordert,
- selbst aktiver zu werden, indem beispielsweise der
Generationenwechsel in Sachsen dafür genutzt wird, den Anteil
Ostdeutscher in den Führungsfunktionen der Landesverwaltung und
allen Bereichen des Öffentlichen Lebens deutlich zu stärken. Die
Maßnahmen der Staatsregierung sollen sich dabei an den Vorschlägen
des Bundes orientieren, der unter anderem ein ganzheitliches
Diversity-Management und kontinuierliche quantitative Erhebungen zur
Repräsentation Ostdeutscher auf den Führungsebenen der
Landesverwaltung beinhalten muss. - sich gegenüber der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass über 30
Jahre nach der Friedlichen Revolution die Lebensrealitäten der
Bevölkerung mit 50,7 Prozent Frauen und 20 Prozent Ostdeutschen
besser in den Führungsebenen abgebildet werden. Die Ansiedlung von
Bundeseinrichtungen in den ostdeutschen Bundesländern muss weiter
vorangetrieben werden, um dem Ziel der gleichmäßigen Verteilung von
Bundesbehörden im gesamten Land endlich gerecht zu werden. Zudem
sollen Führungspositionen entsprechend dem Anteil Ostdeutscher
besetzt werden.
- selbst aktiver zu werden, indem beispielsweise der
Autorinnen: Katja Meier, Dr. Paula Piechotta, Franziska Schubert, Monika Lazar
Begründung
Es ist wichtig, dass sich Sachsen und alle anderen Bundesländer ihrer Verantwortung für ein gesamtgesellschaftliches Problem bewusst werden, sich an dem Fond beteiligen und so den Auszahlungsbetrag für die Berechtigten erhöhen. Eine Nicht-Beteiligung Sachsens lässt sich angesichts der Tatsachen, dass Sachsen einerseits bei Haushalts-Überschüssen von 1,5 Milliarden Euro keine Mittel für eine Fondsbeteiligung bereitstellt, und auch andererseits bereits seit Jahren Millionenbeträge für Sonderrenten aus den DDR-Zusatzversorgungssystemen zahlt für Personen, die bei der NVA oder der Stasi gearbeitet haben, nur schwer erklären. Argumente gegen eine Beteiligung mit Verweis auf die Bundeskompetenz für Rentenrecht können hier nicht überzeugen. Haushaltstechnisch ist die Beteiligung Sachsens auch nach Verabschiedung des Doppelhaushalts für 2023/24 machbar.
Der anstehende Generationenwechsel in Sachsen mit der Pensionierung zahlreicher westdeutsch sozialisierter Menschen, die in den frühen 90er Jahren Führungsfunktionen übernahmen und nun zu einem großen Teil das Rentenalter erreichen, bietet hierbei eine große Chance, die Repräsentation Ostdeutscher in den öffentlichen Führungsfunktionen des Freistaats erheblich zu verbessen, die nicht ungenutzt verstreichen darf. Vor diesem Hintergrund muss die nächste Landesregierung zwingend konkrete Maßnahmen wie verbesserte Bewerbungs- und Auswahlverfahren zur Steigerung ostdeutscher Repräsentation in sächsischen Führungsfunktionen etablieren.
Das Bruttoinlandsprodukt ist in den neuen Bundesländern gerade mal bei gut dreiviertel des Westniveaus angekommen. Potential, hier noch aufzuholen, ist vorhanden; dies gilt es auszuschöpfen. Diese Umstände sind spürbar. Sie wirken sich auch auf das Vertrauen in die Demokratie aus. Wir müssen einerseits zur Stärkung und Stabilisierung der Demokratie, andererseits zur Verbesserung der Lebensumstände in Ostdeutschland aktiv daran arbeiten, die Ungleichheiten abzubauen, indem wir sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene und insbesondere in den Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung entschlossen für eine zügige und konzentrierte Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse kämpfen.
Auf Bundesebene hat es sich die Ampel bereits zum Ziel gemacht, die Mittel für die regionale Wirtschaftsentwicklung für Innovationsförderung, Digitalisierung, betriebliche Produktivitätsziele, Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung aufzustocken, wodurch regionale Wachstumsimpulse generiert werden sollen und auch Ostdeutschland Vorteile zieht.
Durch eine Stärkung von Tarifautonomie, -partnern und -bindung können faire Löhne in Deutschland gewährleistet werden, was auch der Aufhebung des Lohndefizits zwischen Ost und West dienlich ist. Von der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro profitierten überproportional Arbeitnehmerinnen und -nehmer in Ostdeutschland.
Anfang 2023 hat das Bundeskabinett außerdem ein Konzept zur Steigerung des Anteils von Ostdeutschen in Führungspositionen verabschiedet, wodurch der geschärfte Blick vieler Ostdeutscher für den Umgang mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen in den Führungsebenen verstärkt wird.
Wir stehen als Bündnis 90/Die Grünen dafür, die Partnerschaft zu unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarländern zu stärken und dabei die Erfahrungen und Leistungen der Menschen aus Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung zu nutzen. Die gemeinsame Transformationserfahrung verbindet uns und sollte deutlich stärker in den gerade stattfindenden Transformationsprozessen abgerufen und genutzt werden. Gesamtdeutsch betrachtet finden Transformationsprozesse nicht nur in Ostdeutschland, sondern mindestens europaweit statt – wir leben in einer Zeit des Wandels. Die spezifischen Erfahrungen, die wir auch in Ostdeutschland im Umgang mit Veränderungen gesammelt haben, können bei den anstehenden Transformationsprozessen in Europa hilfreich sein.